Herbstausflug ins Sprachpanorama in Laufenburg

Sprache – von allen Seiten beleuchtet

«Züritüütsch»-Ausflug ins «Sprachpanorama» in Laufenburg

Wir sprechen am liebsten, «wie uns der Schnabel gewachsen ist». Für uns ist das meistens Schweizerdeutsch bzw. unser «von selbst» gelernter regionaler Dialekt (das können auch mehrere sein). Doch haben Sie sich bis jetzt grosse Überlegungen gemacht, wie sich Ihre Sprache eigentlich entwickelt hat? Und was genau sie von anderen Sprachen oder Dialekten unterscheidet?

Im Städtchen Laufenburg – während der Helvetik kurz Hauptstadt des Kantons Fricktal (1802/03) – gibt es ein Haus, in dem man sich auf drei Stockwerken stundenlang über die Entwicklung der Sprachen generell und besonders der deutschen Sprache und unserer Schweizer Dialekte, über die schriftliche Darstellung der Weltsprachen, über Sprache als Identitätsfaktor und vieles mehr informieren kann: Das «Sprachpanorama». Da hat ein gleichnamiger Trägerverein riesige Arbeit geleistet, damit es 2017 eröffnet werden konnte!

Davon konnte sich mit einem Coronajahr Verspätung ein gutes Dutzend Mitglieder des Vereins Züritüütsch am 18. September 2021 überzeugen. Netterweise organisiert hatte diesen spannenden Herbstausflug an den aargauischen Rhein Thomas Ziegler, der schon als Interimspräsident im letzten Jahr eingesprungen war. Unter der sehr kompetenten Führung der Linguistin Judith Wieser vom «Sprachpanorama» tauchte die Gruppe nun ein in diese vielseitige Ausstellung.

So entstand das heutige Deutsch

Im Gewölberaum im Parterre sind die Verzweigungen der indoeuropäischen Sprachen dargestellt und auf Tafeln mit einer zeitgeschichtlichen Einordnung die Entwicklung der deutschen Sprache – speziell der Lautwandel – anhand vieler Beispiele sichtbar. Einzelne Weichensteller (etwa Luther, Goethe/Schiller, Gebrüder Grimm) hatten bedeutenden Einfluss auf den Sprachwandel. Zu jeder Zeit gab es auch Lehnwörter, die man interaktiv mit Wendetäfelchen zuzuordnen versuchen konnte.

Weil sich das «Sprachpanorama» mit unterschiedlichsten Aspekten der wortbasierten Kommunikation befasst, gehört auch das schriftliche Festhalten von Sprache dazu. Vor allem diesem widmet sich der erste Stock. Die alten Ägypter benutzten Bildzeichen, die Germanen einst Runen, die Laute, Begriffe oder Zahlen bedeuten konnten. Spannend, welche Entwicklung hinter dem deutschen Alphabet steht! Wie liest man türkisch Geschriebenes? Und wie Arabisches, das jedenfalls von rechts nach links geschrieben und gelesen wird und meist nur Konsonanten enthält? Die Frage nach der aktuellen Zahl der Sprachen weltweit ist kaum zu beantworten, denn einerseits verschwinden pro Jahr etwa 35 Sprachen, unwiederbringlich. Andererseits: Wann ist eine Sprache eine eigene Sprache und wann eine Varietät, z.B. ein Dialekt? Gewisse Wörter kann man kaum übersetzen, da nicht alle Sprachen gleich viele, oder überhaupt, Wörter kennen für ein bestimmtes Phänomen. Wer etwa schon nach Rezepten in Englisch gebacken hat, weiss, dass Masseinheiten wie cup, mug, bowl oder Tasse und Becher recht unterschiedliche Formate bedeuten können. Weil der Aufbau der Sprachen so verschieden ist (also, ob man Bedeutungen durch angehängte Silben verändert, ob Letztere zudem ihre Bedeutung verändern können oder ob die Wortstellung fest geregelt ist), kann das Lernen von Sprachen mit einem für uns ungewohnten System eine fast unüberwindliche Knacknuss bedeuten.

Vom Sprechen und vom Schreiben

Oft sind Sprachräume klein, gerade in den Alpen. Wenn man sieht, wie verzettelt heute die Gebiete sind, in denen das rätoromanische Sursilvan gesprochen wird, begreift, warum es einen schweren Stand hat. Beim Abstecher in den Raum, welcher dem Lesen gewidmet ist, zeigt ein faszinierendes Video, wie sich der Verschlussapparat im Kehlkopf (die Glottis) mit den beiden Stimmlippen öffnet und schliesst bei der Lautbildung. Gleich daneben wird die Bedeutung und Bekämpfung des Illetrismus beleuchtet. Erschreckend viele Menschen haben in ihrer ganzen Schulzeit das Lesen und Schreiben nie genügend erlernt oder haben es wieder vergessen. Ob der bildschön geschriebenen alten Schriften, etwa die Deutsche Kurrentschrift oder die Sütterlinschrift, staunt man hingegen immer wieder. Wie viel Fleiss und Drill steckte dahinter? Dass die «richtige» Sprache den Zugang zu bestimmten sozialen Gruppen bedeutet, kennen wir vom Jugendslang oder vom Gebrauch von Fach- und Fremdwörtern durch höher Gebildete. Sie bedeutet Integration und Identität – oder Abgrenzung.

Sprache – Teil unserer Identität

Glücklich ist, wer verschiedene Gruppensprachen beherrscht und «switchen» kann – tagsüber Management-Sprache, am Abend Slang mit der Clique und daheim dann Familiendialekt. Denn Identität gibt auch der eigene Dialekt. Die regionale Färbung der Mundart weist oft gleich eine geografische Zuordnung des Gegenübers zu, früher oft sogar von Dorf zu Dorf. Den Dialekten ist der zweite Stock des Altstadthauses gewidmet. Sprache oder Sprachfärbung kann nicht nur Identität stiften, sondern auch deren Bedrohung bedeuten. Nicht alle Sprachen, nicht alle Dialekte haben das gleiche Prestige. Wer oder was bestimmt den Stellenwert?

Weil sich Sprache und auch die Schweizer Dialekte stets verändern, möchte man – vor allem natürlich die Sprachwissenschaft – möglichst viel vom Bedrohten festhalten. Früher ging das nur behelfsmässig durch phonetisches Notieren der Sprache von Gewährsleuten. Zum Glück gibt es heute immer bessere elektronische Möglichkeiten. Am Beispiel des «Sprachatlasses der Deutschen Schweiz» (SDS) zeigt das «Sprachpanorama», welche methodischen Fragen sich den Linguisten um Rudolf Hotzenköcherle und Rudolf Trüb stellten und wie sie dann vorgingen. Anhand von Auszügen aus dem «Kleinen Sprachatlas der deutschen Schweiz», der auf dem SDS beruht, sind sowohl die Hauptdialektgrenzen gut dargestellt, als auch der Variantenreichtum ersichtlich. Verschiedene, interaktive Spiele – ganz ohne Computer! – und die vielen regionalen Ausdrücke auf der grossen Schweizerkarte auf dem Fussboden sorgen für kurzweilige Aktivitäten und Diskussionen. Wie man im Dialekt schreibt, womöglich gar literarisch, ist wieder ein anderes Kapitel. Dass gerade die Mundartkultur inklusive Dialektliteratur derzeit eine Hochblüte erlebt, braucht nicht viel Erklärungen. Der Dialektroman «Dr Goalie bin ig» (2010) wurde zum Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt, sogar in den Glasgower Dialekt.

Zwar wurden Liebesbriefe schon vor vielen Jahrzehnten zum Teil in Dialekt geschrieben, heute jedoch schreiben die jungen Schweizerinnen und Schweizer in den sozialen Medien vor allem, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – oder treffender: nach Gehör. Zudem schreiben sie oft extra nicht nach orthografischen Normen, etwa «sh» statt «sch», sondern so, wie es die Gruppenidentität erfordert. Zum Teil entwickeln sich also Gruppensprach- und -schreibregeln. Wie sich das auf die Deutschschweizer Schreibkultur auswirken wird? Das «Sprachpanorama» bleibt wohl dran.

Für die individuell angereisten Zürcherinnen und Zürcher endete der Besuch in diesem spracherfüllten Haus wieder im Gewölberaum, wo ein sehr freundlich servierter Apéro riche auf sie wartete.

Wir danken Thomas Ziegler fürs Organisieren des Herbstausfluges!

 

Sprachpanorama
Untere Wasengasse 102, 5080 Laufenburg
062 558 55 22

https://www.sprachpanorama.ch
geöffnet jeweils Sa, 14–17 Uhr
(Nov./Dez. 2021 auch mittwochs
)

Details

Wann

18.09.2021

Zeit

15:00 Uhr

Ort

Sprachpanorama Laufenburg

Eintritt

Eintritt: frei, Gäste willkommen

Weitere Informationen

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